Das bin doch ich by Thomas Glavinic

Das bin doch ich by Thomas Glavinic

Author:Thomas Glavinic [Glavinic, Thomas]
Language: deu
Format: epub
Tags: Authors; German, Authorship, Fiction, German fiction
ISBN: 9783446209121
Publisher: C. Hanser
Published: 2007-09-14T22:00:00+00:00


Zwölf

Mein Freund Erwin Michenthaler hat in Graz eine Ausstellung. Ich will mir die Eröffnung nicht entgehen lassen, zumal das bei ihm stets groteske Veranstaltungen sind. Am Südbahnhof kaufe ich mir eine Fahrkarte für die erste Klasse. Vermutlich wäre es vernünftiger, erst abzuwarten, ob es in der zweiten Klasse voll oder unangenehm wird, weil ich dann ja noch immer wechseln könnte, aber ich bin zu träge. Außerdem bekomme ich dann keinen Fensterplatz. Und müßte vermutlich jemandem gegenübersitzen, was ich schon gar nicht leiden kann.

Ehe ich einsteige, gehe ich zum Geldautomaten. Ich muß warten. Vor mir ist ein großer, kräftiger, brutal wirkender Mann an der Reihe. Er braucht lang. Als er fertig ist und sich umdreht, erkenne ich ihn, es ist die österreichische Mundartdichterin, die beim Fernsehquiz eine Million Euro gewonnen hat. Die Sendung habe ich nicht gesehen, doch seither war die Dichterin so oft in Zeitungen und im Fernsehen, daß sie wohl jeder kennt.

In der ersten Klasse erwartet mich eine Überraschung: Kein Mensch im Waggon, aber alle Plätze reserviert. Alle. Der ganze Großraumwaggon. Von Wiener Neustadt bis Graz, also etwa die halbe Strecke. Einen zweiten gibt es nicht. Eine Weile wandere ich konsterniert durch den Waggon und frage mich, was ich jetzt tun soll. Meine Karte kann ich nicht zurückgeben.

Ich setze mich auf den einzigen Platz, der nicht von Wiener Neustadt an reserviert ist, nämlich den, der laut Beschilderung den Passagieren mit Expreßreservierung vorbehalten ist. Eine Frau mit Trolley kommt herein. Ungefähr so ratlos muß Minuten zuvor ich ausgesehen haben. Sie liest die Reservierungen und wird sichtlich unruhig. Sie setzt sich zu mir, wir schimpfen über die Bahn. Ein Herr gesellt sich zu uns, dann noch einer. Nun sitzen vier Passagiere nebeneinander hinten im Waggon, auf den Sitzen der Expreßkartenbesitzer, und der Rest der Plätze ist unbesetzt.

Als der Zugbegleiter kommt, ist die Stimmung aufgeheizt, und er bekommt viel Unerfreuliches zu hören. Am wüstesten gebärdet sich ein unrasierter Kerl mit einem Feuermal auf der Stirn, der von den reservierten Plätzen auf den katastrophalen Allgemeinzustand des Waggons zu sprechen kommt und fragt, was an diesem Loch einer ersten Klasse würdig ist. Der Teppich auf dem Boden ist verdreckt, die Sitze sind abgewetzt, wofür bezahlt man eigentlich den Aufpreis usw. In seiner Hilflosigkeit sagt der Zugbegleiter: »Tun Sie sich bitte beruhigen!« Was den Fahrgast noch weiter aufbringt. Geschrei, Frage nach der Dienstnummer, Drohungen. Der Zugbegleiter, die Notwendigkeit einer Rücksprache mit Kollegen vorschützend, flüchtet.

Der Zug fährt los. Meine Laune wird besser, als die Bierbetreuerin kommt. Ich nehme Kaffee und einen Pennesalat mit Oliven und getrockneten Tomaten sowie eine asiatische Suppe. Nach dem Essen bin ich so zufrieden mit der Welt, daß mir meine Attacken gegen den Zugbegleiter leid tun. Ich nehme mir vor, ihm das zu sagen, aber er läßt sich nicht blicken.

Ich lese in der neuesten Ausgabe von Schach, ab und zu verschicke ich SMS. Der Schriftsteller-Schlaks erinnert mich, er wird am Abend auf 3sat zu sehen sein. Ich schreibe Else, sie soll die Sendung bitte aufzeichnen, denn ich bin sicher, daß ich um halb elf noch nicht zurück im Hotel sein werde.



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